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Ist die BITV 2.0 überflüssig?

22.09.2011

Es hat lange (viele sagen: viel zu lange) gedauert: heute tritt die BITV 2.0 in Kraft, 2 ¾ Jahre nach der Veröffentlichung der WCAG 2.0 als W3C Recommendation. Ist die neue BITV, da sie so spät kommt, nun eigentlich überflüssig?

Der Text der BITV 2.0 findet sich in der Ausgabe des Bundesgesetzblattes vom 21. September 2011. Dort finden wir den Text der BITV 2.0 in einem nicht barrierefreien PDF.

Von Seiten der BITKOM (vergleiche etwa die jüngste Stellungnahme von Klaus-Peter Wegge, Siemens AG, vor dem Unterausschuss Neue Medien des Bundestages - nicht barrierefreies PDF) sowie von einigen deutschen Barrierefreiheitsexperten ist nun zu hören, dass die BITV 2.0 eigentlich überflüssig sei: man hätte, wie in einigen anderen europäischen Ländern, doch gleich die WCAG 2.0 zur Grundlage für eine Verordnung nehmen können. Außerdem würde im Zuge des EU-Mandats 376 in den nächsten zwei Jahren ein europäischer Standard (EN) zur Berücksichtigung und Überprüfung der Barrierefreiheit bei öffentlichen Ausschreibungen und Vergaben geschaffen. Teil dieses Verfahrens sei dann ein harmonisiertes Prüfverfahren für die Feststellung der Konformität mit WCAG 2.0, welches die Evaluation Methodology Task Force des W3C (EVAL TF) in den nächsten zwei Jahren entwickeln wird. Dieses würde dann auch den BITV-Test überflüssig machen.

Das Mandat 376 und die Arbeit der EVAL TF

Noch aber ist der im Mandat 376 in Vorbereitung befindliche Europäische Standard für die Anforderungen an öffentliche IT-Ausschreibungen nicht von den EU-Mitgliedsstaaten beschlossen. Er ist noch nicht einmal fertig: die bei öffentlichen Vergabe-Abteilungen erhobenen Anforderungen für das Toolkit, dass den Prozess unterstützen soll, sind noch nicht einmal veröffentlicht, und vom Standard selbst sind schätzungsweise erst 45% vorhanden. Der Rest ist noch im Entwurfsstadium. Es werden sicher noch zwei Jahre ins Land gehen, bis der Standard praktisch zur Anwendung käme.

Auch das harmonisierte Prüfverfahren der EVAL TF wird noch mindestens zwei Jahre auf sich warten lassen: die Arbeit der sehr heterogenen internationalen Arbeitsgruppe hat eben erst begonnen (BIK ist daran beteiligt). Die eher allgemein und werkzeugneutral gehaltene Methodik müsste dann erst in praktischen Prüfverfahren implementiert werden.

Vorteile der Einführung der BITV 2.0

Deshalb macht es durchaus Sinn, in Deutschland mit der Aktualisierung der BITV nun eine den WCAG 2.0 entsprechende Verordnung verbindlich einzuführen. Besonders wenn diese, anders als bei der BITV 1.0, auch von den Ländern und Kommunen ohne Abstriche übernommen wird, werden die Auswirkungen auf die Zugänglichkeit von Angeboten der öffentlichen Hand sicher positiv sein.

Sicherlich gibt es auch formalrechtliche Gründe, die zu der Umsetzung der internationalen W3C-Empfehlung WCAG 2.0 als deutsche Verordnung BITV 2.0 geführt haben. Dass es grundsätzlich bei dem Aufbau der BITV mit ihren zwei Prioritäten geblieben ist, hat wohl auch damit zu tun, dass eine Verordnung, die sich in der Form deutlich an ihre Vorgängerin anschließt, den Bundesressorts, die sie umsetzen müssen, leichter zu vermitteln war.

Dennoch stimmt es natürlich, dass die Geltung zweier wenn auch nur leicht voneinander abweichender Richtlinien für internationale Webangebote und webbasierte Dienstleistungen zumindest irritierend ist. Die kritische Frage ist hier, ob es in der praktischen Beurteilung der Konformität von Webangeboten wirklich zu signifikanten Unterschieden kommen wird.

Weichen WCAG 2.0 und BITV 2.0 deutlich voneinander ab?

In Diskussionen um die BITV 2.0 wird die Meinung geäußert, es gäbe zwischen den WCAG 2.0 und der BITV 2.0 gravierende Unterschiede. Dies könne dazu führen, dass Angebote, die Konformität mit beiden Richtlinien nachweisen wollten, sich gegebenenfalls doppelt prüfen lassen müssten. Das ist unserer Meinung nach nicht richtig. Die BITV 2.0 folgt fast durchgehend den WCAG 2.0. Die wenigen Unterschiede sind schnell aufgezählt. Wenn es in Prüfungen zu Abweichungen käme, hätten diese jedenfalls mehr mit dem angewandten Prüfverfahren als mit den zugrunde liegenden Richtlinien zu tun.

Die wichtigste Abweichung betrifft zusätzliche Regelungen für Behörden der Bundesverwaltung. Für diese fordert die BITV 2.0, dass "zentrale Navigations- und Einstiegsangebote" die Anforderungen der Priorität 2 (entspricht Level AAA der WCAG 2.0) erfüllen sollen, und dass zusätzlich die Startseite einer Behörde im Sinne von §7 des Behindertengleichstellungsgesetzes die Anforderungen der Anlage 2 der BITV erfüllen muss. Diese fordert Texte in leichter Sprache und Gebärdensprachvideos mit Informationen zum Inhalt, Hinweisen zur Navigation, und Hinweisen auf weitere Angebote in leichter Sprache und Gebärdensprache.

Andere Anbieter, die die deutsche BITV erfüllen möchten, sind von diesen zusätzlichen Regelungen nicht betroffen. Für sie gelten die Anforderungen der Anlage 1, die im Großen und Ganzen dem Konformitätslevel AA der WCAG 2.0 entsprechen.

Eine Website, die erfolgreich auf Konformität mit WCAG 2.0 Level AA geprüft worden ist, wird also in der Regel auch in der BITV 2.0 als gut zugänglich bewertet werden und umgekehrt, wobei die wenigen Ausnahmen der BITV (dazu kommen wir gleich) eine leichte Verschärfung gegenüber den WCAG 2.0 darstellen.

Die Abweichungen im Detail

Um das geringe Ausmaß der Abweichungen zu zeigen, macht es vielleicht Sinn, die tatsächlich unterschiedlichen Anforderungen zu nennen und zu kommentieren.

2.4.8 Standort / 2.4.8 Location

Die BITV 2.0 fordert:

Es sind Informationen über den Standort der Nutzerin oder des Nutzers innerhalb der Webseite sowie innerhalb verbundener Webangebote verfügbar.

Die entsprechende Anforderung ist in den WCAG 2.0 (man möchte sagen, bedauerlicherweise) nur auf dem Konformitäts-Level AAA enthalten. Um nicht hinter die Anforderungen der BITV 1.0 zurückzufallen (13.4: "Navigationsmechanismen müssen schlüssig und nachvollziehbar eingesetzt werden"), nahm man in der BITV 2.0 diese Bedingung mit in die Priorität 1 hinein. Webangebote, die die Position der Nutzer im Webauftritt über einen Breadcrumb (Seitenpfad) oder in anderer Weise, etwa durch Hervorhebung der ausgewählten Position im Menü, hervorheben, erfüllen den entsprechenden Prüfschritt 2.4.8 Position im Webauftritt klar des neuen BITV-Tests.

Wenn es keinerlei Hinweis auf die Position gäbe, würden in dem neuen BITV-Test maximal 3 Punkte abgezogen.

2.4.4 Zweck eines Links (im Kontext) / 2.4.4 Link Purpose (In Context)

Die BITV 2.0 fordert:

Ziel und Zweck von Links sind aus dem Linktext selbst oder aus dem Linktext in Verbindung mit dem durch Programme bestimmbaren Kontext ersichtlich.

Hier gibt es also im Vergleich zur BITV 1.0 und dem alten BITV-Test eine erhebliche Lockerung der Anforderungen. Wo ist nun der Unterschied zur WCAG 2.0? Diese schränkt die Anforderung in einem Nachsatz ein:

2.4.4 Link Purpose (In Context): The purpose of each link can be determined from the link text alone or from the link text together with its programmatically determined link context, except where the purpose of the link would be ambiguous to users in general. (Level A)

Der Zusatz "except where the purpose of the link would be ambiguous to users in general" bezieht sich auf Fälle, in denen der Zweck des Links für alle Benutzer unklar wäre. Kerstin Probiesch hat in einem Artikel zum Entwurf der BITV 2.0 über mehrdeutige Linkziele diesen Fall am Beispiel eines Inline-Links "Spargel" besprochen: man weiß nicht, was sich dahinter verbirgt, es könnte ein Wikipedia Artikel, ein Glossareintrag, eine Statistik, ein Bild oder noch etwas anderes sein.

Dies ist ein Usability-Problem, kein Problem der Barrierefreiheit. Der BITV-Test würde nur dann Punkte abziehen, wenn der Kontext des Links für normalsichtige Nutzer eindeutiger bestimmbar wäre als für Hilfsmittel-Nutzer – also dieser Kontext nicht programmatisch ermittelbar ist wie im Prüfschritt 2.4.4a Aussagekräftige Linktexte beschrieben. Der Zusatz bedeutet also, wenigstens im BITV-Test, keine relevante Abweichung zwischen BITV 2.0 und WCAG 2.0.

3.1.2 Sprache einzelner Abschnitte / 3.1.2 Language of parts

Die BITV 2.0 fordert:

Die natürliche Sprache aller verwendeten Textpassagen oder Ausdrücke ist durch Programme erkennbar.

Die WCAG 2.0 fordern:

3.1.2 Language of Parts: The human language of each passage or phrase in the content can be programmatically determined except for proper names, technical terms, words of indeterminate language, and words or phrases that have become part of the vernacular of the immediately surrounding text. (Level AA) (unsere Hervorhebung)

Die WCAG 2.0 schränken also die Pflicht für eine Sprachauszeichnung ein, und zwar für Eigennamen, technische Begriffe, Wörter unbestimmter Sprache (etwa Neologismen) oder fremdsprachige Übernahmen (WCAG nennt etwa das Wort "Rendezvous" im Englischen). Letztere werden im BITV-Test ebenfalls nicht bemängelt, wenn sie im "Duden - Deutsches Universalwörterbuch" enthalten sind.

Es wird nur selten Fälle geben, in denen der BITV-Test hier aufgrund des Fehlens dieser Einschränkungen strenger wäre als ein WCAG-basiertes Prüfverfahren. Für Namen und technische Begriffe lässt sich keine generelle Regel aufstellen: im Einzelfall ist zu prüfen, ob die deutsche Aussprache eines englischen Fachbegriffs ebenfalls verständlich wäre bzw. vielleicht sogar gängig ist. Dann wäre ohnehin keine Auszeichnung notwendig. Vereinzelt vorkommende Wörter, die 'vergessen' worden sind, führen in der Praxis ohnehin nicht zu Punktabzügen, wenn ansonsten erkennbar ist, das fremdsprachige Ausdrücke und Wörter grundsätzlich ausgezeichnet worden sind.

Maximal könnte in Prüfschritt 3.1.2b Anderssprachige Wörter ausgezeichnet ein Punkt abgezogen werden.

2.4.7 Sichtbarer Fokus / 2.4.7 Focus Visible

Die BITV fordert:

Bei Tastaturbedienung ist immer ein Tastaturfokus sichtbar.

Die WCAG 2.0 fordern im Prinzip das Gleiche, aber mit einer Qualifizierung:

2.4.7 Focus Visible: Any keyboard operable user interface has a mode of operation where the keyboard focus indicator is visible. (Level AA)

Die Abweichung von der generellen Forderung nach Sichtbarkeit des Fokus bezieht sich auf Fälle, in denen Autoren den Fokus nicht, etwa über CSS, deutlicher hervorheben, sondern unbeeinflusst lassen, so dass der Systemfokus zur Anzeige kommt. Dies ermöglicht es Nutzern, über Zugänglichkeitseinstellungen der Betriebssysteme eine deutlichere Fokushervorhebung einzustellen, die nicht etwa von den CSS-Anweisungen des Autors gestört oder überschrieben wird.

Im BITV-Test gibt es bei Verwendung eines sichtbaren Systemfokus keine Punktabzüge. Gefordert wird nur, dass der Tastaturfokus nicht schwächer ist als der Mausfokus, um Tastaturnutzer nicht gegenüber Mausnutzern zu benachteiligen. Dies entspricht auch dem WCAG-Ansatz, Fokushervorhebung für Maus- und Tastaturnutzer gleichermaßen zu gewährleisten; siehe etwa WCAG-Technik C15. BITV und WCAG weichen in diesem Punkt also nicht grundsätzlich voneinander ab.

Fazit

In Bewertungen des BITV-Tests könnte es bei einer ansonsten korrekten (konformen) Umsetzung einer Seite nach WCAG 2.0 theoretisch zu einem Punktabzug von maximal 4 Punkten kommen, der durch die abweichenden (etwas schärferen) Anforderungen der BITV verursacht wäre – dies aber auch nur, wenn sowohl die Darstellung der Position im Webauftritt komplett fehlt (drei Punkte Abzug) und gleichzeitig die fehlende Auszeichnung englischer Fachbegriffe oder Eigennamen so gravierend wäre, dass es im Prüfschritt 3.1.2b zum vollen Punktabzug käme.

Da es zur Zeit kein ähnliches oder gleichgeartetes englischsprachiges Prüfverfahren für die WCAG 2.0 gibt (auch wenn andere Organisationen ebenfalls mit der Bewertungsgrenze von 90 von 100 Punkten operieren), ist der Vergleich zwischen BITV 2.0 und WCAG 2.0 natürlich schwierig. Dennoch lässt sich sagen, dass von "gravierenden Unterschieden" beider Richtlinien keine Rede sein kann.