Mit dem European Accessibility Act bzw. der Richtlinie (EU) 2019/882 über Barrierefreiheitsanforderung für Produkte und Dienstleistungen werden Wirtschaftsakteure verpflichtet, verschiedene Produkte und Dienstleistungen barrierefrei in Verkehr zu bringen. Deutschland hat die EU-Richtlinie im Juli 2021 durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in nationales Recht umgesetzt. Welche ersten Informationen lassen sich aus dem BFSG ableiten und auf was sollten sich Wirtschaftsakteure einstellen?
Die Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (European Accessibility Act) wurde am 7. Juni 2019 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und muss bis zum 28. Juni 2022 in den EU-Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden. Die Regelungen einer EU-Richtlinie gelten für die EU-Mitgliedsstaaten als Mindeststandard, sie dürfen aber darüber hinausgehen. Anders als bei unmittelbar geltenden Verordnungen kann es daher innerhalb der EU zu leicht unterschiedlichen Regelungen kommen.
In Deutschland wurde die Richtlinie (EU) 2019/882 durch ein neues Stammgesetz umgesetzt: das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (kurz: Barrierefreiheitsstärkungsgesetz - BFSG) vom 16. Juli 2021. Das BFSG enthält eine Verordnungsermächtigung, d.h. zur Konkretisierung der Anforderungen wird es eine Rechtsverordnung geben. Diese soll voraussichtlich bis Sommer 2022 federführend durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales entwickelt werden (Nachtrag 06/2022: Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wurde am 22.06.2022 verkündet).
Die EU-Mitgliedstaaten müssen die Maßnahmen ab dem 28. Juni 2025 anwenden. Das bedeutet, dass Wirtschaftsakteure die in den Anwendungsbereich fallenden Produkte und Dienstleistungen dann nur noch barrierefrei in Verkehr bringen bzw. erbringen dürfen. Übergangsbestimmungen gibt es für einzelne Bestandsprodukte, die bereits vor dem 28. Juni 2025 im Einsatz waren. Für Selbstbedienungsterminals gilt beispielsweise eine Übergangsfrist von maximal 15 Jahren.
Die Richtlinie (EU) 2019/882 wurde durch das BFSG in weiten Teilen eins zu eins umgesetzt. Der Aufbau des Gesetzes orientiert sich weitgehend an dem der EU-Richtlinie. Das Gesetz besteht aus zehn Abschnitten und vier Anhängen. Die wichtigsten Inhalte lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Grundsätzlich grenzt das BFSG den Anwendungsbereich ein, d.h. nicht alle Produkte und Dienstleistungen müssen barrierefrei gestaltet werden, sondern nur die in § 1 "Zweck und Anwendungsbereich" genannten. In der Regel geht es um Produkte und Dienstleistungen, die sich an Verbraucher*innen richten.
Aufgezählt werden folgende Produkte, die nach dem 28. Juni 2025 in Verkehr gebracht werden:
Zusätzlich werden folgende Dienstleistungen, die nach dem 28. Juni 2025 für Verbraucher*innen erbracht werden, eingeschlossen:
Für bestimmte Produkte und Dienstleistungen definiert das BFSG Ausnahmen von der gesetzlichen Verpflichtung zu Barrierefreiheit:
Ausgenommen sind gemäß § 3 Kleinstunternehmen, die Dienstleistungen anbieten. Laut Begriffsbestimmungen ist das:
Von der Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen kann gemäß §§ 16 und 17 auch dann abgesehen werden,
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz definiert in § 3 „Barrierefreiheit, Verordnungsermächtigung“: "Produkte, die ein Wirtschaftsakteur auf dem Markt bereitstellt, und Dienstleistungen, die er anbietet oder erbringt, müssen barrierefrei sein." Diese Formulierung ist sehr allgemein gehalten. Anzuwendende Standards werden hier noch nicht aufgeführt. Absatz 2 weist jedoch darauf hin, dass die Anforderungen an die Barrierefreiheit in einer Rechtsverordnung konkretisiert werden (diese Verordnung ist ja bereits in Entwicklung und soll bis Sommer 2022 kommen).
Für Webseiten und Apps ist § 4 "Konformitätsvermutung auf der Grundlage harmonisierter Normen" interessant: Dieser Paragraph erklärt, dass Konformität angenommen werden kann, wenn Produkte oder Dienstleistungen den in der europäischen Union geltenden harmonisierten Normen entsprechen. In der europäischen Union gilt die EN 301 549 V3.2.1 (PDF, 2,17 MB) als harmonisierte Norm zu "Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienste" (Stand 03/2022). Wir kennen sie bereits: Gemäß Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) ist sie anzuwendender Standard für Websites und Apps öffentlicher Stellen. Wir gehen daher davon aus, dass sie auch für Websites und Apps, die in den Anwendungsbereich des BFSG fallen, maßgeblich sein wird.
Das BFSG definiert im Abschnitt 3 recht umfassende Pflichten für Wirtschaftsakteure. Da Websites und Apps als Dienstleistungen gelten, soll es im Folgenden hauptsächlich um § 14 "Pflichten des Dienstleistungserbringers" gehen:
Eine nachhaltige Strategie zur Umsetzung von Barrierefreiheit wird zukünftig für Wirtschaftsakteure immer bedeutsamer.
Ähnliches gilt auch für Wirtschaftsakteure im Bereich der Produkte: Vom Hersteller über den Importeur bis zum Händler – für alle Akteure der Herstellungs- und Vertriebskette der genannten Produkte wurden komplexe Pflichten festgeschrieben.
Ob die Wirtschaftsakteure ihre Pflichten einhalten, wird zukünftig überwacht: Die Marktüberwachung selbst soll durch Marktüberwachungsbehörden der 16 deutschen Bundesländer durchgeführt werden. Für die Ausgestaltung der Überwachung sind die Bundesländer zuständig.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) wird die Koordinierung zwischen den Bundesländern sowie die Kommunikation mit der europäischen Kommission und anderen EU-Mitgliedstaaten übernehmen. Dies ist im BFSG bereits festgelegt.
Überwacht werden soll in Zukunft sowohl "ohne Anlass" (stichprobenartig) als auch "anlassbezogen". Ein Anlass zur Überwachung wäre beispielsweise die Inanspruchnahme einer Ausnahme gemäß §§ 16 und 17 (siehe oben: Veränderung der Wesensmerkmale, unverhältnismäßige Belastung). Auch Verbraucher*innen oder anerkannten Selbsthilfe-, Verbraucherschutz- oder Wirtschaftsverbänden (genauer: „Anspruchsberechtigte Stellen“ gemäß § 3 Unterlassungsklagengesetz) können einen Antrag stellen. Besteht der Verdacht, dass Marktteilnehmer nicht-barrierefreie Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung stellen, können Verbraucher*innen die Marktüberwachungsbehörden unterrichten oder sich von einer der oben genannten anspruchsberechtigten Stellen oder einer Schlichtungsstelle gemäß § 16 Behindertengleichstellungsgesetz vertreten lassen.
Das BFSG beschreibt bei Nicht-Erfüllung ein dreistufiges Vorgehen: Es beinhaltet eine zweimalige Aufforderung zu Korrekturmaßnahmen innerhalb einer festgelegten Frist. Werden diese Aufforderungen nicht umgesetzt, sieht das Gesetz im dritten Schritt die Einstellung der Dienstleistung durch die Marktüberwachungsbehörde vor.
Zur Anwendung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) eine Leitlinie mit praktischen Beispielen und verständlichen Erklärungen veröffentlicht: Leitlinien für die Anwendung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (PDF, 150KB)